Bei stern.de wurde ein Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff veröffentlicht.
Glaubt man den Worten von Michael Winterhoff, Kinder- und Jugendpsychiater aus Bonn, laufen wir auf eine Katastrophe zu. Denn so, wie unsere Gesellschaft funktioniert, wird sie mit den Kindern und Jugendlichen, die derzeit heranwachsen, nicht weiterbestehen. Den Kindern fehle soziale Kompetenz, in Jobs sind das die sogenannten Soft Skills. Ein Gespür für Situation, das Setzen von Prioritäten, das Erkennen von Handlungsbedarf – Fehlanzeige. Auf 50 Prozent der Kinder trifft das heute zu, sagt der 64-Jährige.
Winterhoff spricht der Hälfte der heutigen Kinder die Sozialkompetenz ab. Diesen hohen Anteil kann ich in meiner direkten Umgebung nicht nachvollziehen. Wie es außerhalb des von mir direkt beobachteten Bereichs aussieht kann ich natürlich nicht sagen.
Falls der Anteil von 50 Prozent „Problemkindern“ korrekt ist, muss es sehr große Unterschiede zwischen Teilgruppen von Kindern geben. Meine Erwartung wäre, dass Winterhoff auf dieses Thema eingeht, damit der Leser das Problem verstehen und einordnen kann.
Welche Kinder besonders betroffen sind ist wichtig zu wissen, um die Ursachen zu verstehen. Nur so kann die Gesellschaft – Staat, Bürger, Institutionen – gegensteuern.
Leider wird Winterhoff das nicht tun. Es ist nur der erste von vielen Punkten in diesem Interview, an dem konkrete Aussagen beim Verständnis der Situation helfen würden, aber schlicht fehlen.
Mein Eindruck ist: Konkrete Aussagen fehlen, denn sie könnten unangenehm sein. Es ist möglich, dass Winterhoff Angst vor der Reaktion hat, wenn er beispielsweise Schwerpunktstadtteile nennen würde, oder Kinder antiautoritärer Eltern, Migranten, Einzelkinder, Kinder vom Lande, Ostdeutsche, Westdeutsche oder Kinder Alleinerziehender.
Ohne diese konkreten Aussagen bleibt das Interview im Wagen und Ungefähren.
Und er führt diese Entwicklung nicht auf mangelnde Erziehung zurück, sondern auf die fehlende „erworbene Intelligenz“. Und das liege daran, dass Kindern ein Gegenüber fehle, eine menschliche Person, mit der sie sich auseinandersetzen.
Diese Aussage ist erkennbar inkonsistent, schließlich ist „Erziehung“ eine Tätigkeit und fehlende „erworbene Intelligenz“ eine Eigenschaft. Es sind Äpfel und Birnen, die hier verglichen werden.
Es ist auch nicht schlüssig, warum die fehlende Sozialkompetenz von Kindern keine Folge mangelnder Erziehung sein soll, sondern stattdessen auf das Fehlen einer „erworbenen Intelligenz“ zurückgeführt wird.
Wodurch „erwirbt“ man denn diese „Intelligenz“? Hat Erziehung darauf keinen Einfluss?
Auf die Spitze der Absurdität wird die Aussage dadurch getrieben, dass als Ursache für die fehlende „erworbene Intelligenz“ auch noch ein fehlender Gegenüber angegeben wird. Wer wäre denn so ein Gegenüber? Die Eltern vielleicht?
Ist es nicht genau Erziehung, die (zumindest teilweise) zur „erworbener Intelligenz“ führt?
Es bleibt offen, ob diese Aussage so von Winterhoff kommt, oder ob Stern- Autorin Susanne Baller ihn falsch wiedergibt.
Auf mich wirkt diese Aussage nicht wie Zufall. Nicht in diesem Interview.
Es wirkt wie der erste von vielen Versuchen, die Eltern von der Verantwortung für schlechte Erziehung freizusprechen – und sie gleichzeitig aus der Zuständigkeit für die Erziehung herauszudrängen.
Liest man bei Wikipedia unter „Erziehung“ nach, findet sich, dass auch das Erlernen von sozialen Fähigkeiten Teil der Erziehung ist.
Unter Erziehung versteht man die pädagogische Einflussnahme auf die Entwicklung und das Verhalten Heranwachsender. […]
Der Ausdruck „Erziehung“ bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch […] die Gesamtheit allen erzieherischen Handelns, das die Personalisation, Sozialisation und Enkulturation eines Menschen steuert […].
Erziehung beinhaltet den Erwerb von Sozialkompetenzen. Michael Winterhoff ist Kinder- und Jugendpsychiater. Weiß er das nicht? Oder versucht er die Leser bewusst in die Irre zu führen?
Das Bildungswesen habe sich in die falsche Richtung entwickelt: autonomes Lernen (Kinder erarbeiten sich alles alleine), individuelles Lernen (Kinder entscheiden, auf welchem Niveau sie lernen) und Lehrer und Erzieher, die ihrem eigentlichen Beruf gar nicht mehr nachgehen, sondern nur noch sogenannte Lernbegleiter sind.
Michael Winterhoff schränkt die Verantwortung für mangelnde „erworbene Intelligenz“ auf das Bildungswesen ein. Nur das Bildungswesen entwickelt sich seiner Meinung nach in eine falsche Richtung.
Winterhoff berichtet von einigen Beispiele für Kindergärten, die aus seiner Sicht falsch erziehen, weil sie Kinder autonom entscheiden lassen, was sie gerade wollen und ihnen nichts vorschreiben oder abverlangen.
Die Eltern werden nicht erwähnt, nicht einmal der der Einfluss der Eltern auf solche Bildungseinrichtungen. Eltern könnten gegen ungeeignete Methoden protestieren, sie könnten versuchen ihre Kinder in anderen Einrichtungen unterzubringen. Das mag in Zeiten knapper Kindergartenplätze schwierig sein, ein Signal an die Träger und die Gemeindeverwaltung wäre schon der Versuch.
Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff ignoriert in seiner Bestandsaufnahme das Offensichtliche: Viele Eltern begrüßen diese neuartigen Erziehungsmethoden.
Es ist falsch, die Eltern aus der Verantwortung zu nehmen. Es ist falsch, weil es den Kindern schadet die Verantwortung nur auf staatliche Einrichtungen abzuschieben.
Viel besser wäre die Aufforderung an die Eltern Verantwortung zu übernehmen und bessere Kindergärten für ihre Kinder einzufordern und ihre Kinder in besseren Einrichtungen unterzubringen.
Winterhoff glaubt an die Lösung „von oben“ durch Politik und Staat. Dabei ignoriert er seine wichtigsten Verbündeten im Kampf für die Kinder: Die Eltern.
Die allermeisten Eltern würden Berge versetzen, wenn es im ihre Kinder geht. Winterhoff müsste sie ansprechen und sie überzeugen, dass so manches Bildungsverständnis ihren Kindern schadet. Die Eltern würden mit den Füßen abstimmen.
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