Schon die kleinste Abweichung vom Mainstream wird hart bestraft

Focus.de berichtet über den Leiter des ZDF-Studios in Kairo, der live im ZDF davon berichtet hatte, dass Flüchtlinge aus Duma davon erzählt hätten, dass die Terrororganisation Islamischer Staat den Giftgas-Zwischenfall inszeniert habe.

Statt ihre Leser neutral über diese Sichtweise zu informieren, entschloss sich Focus-Autorin Anja Willner zu einem Hit-Piece gegen ZDF-Mann Uli Gack.

Dass sich auch das ZDF selbst nicht dazu durchringen konnte, sich vorbehaltlos hinter ihren Korrespondenten zu stellen, kommt ihr dabei sehr gelegen.

Der Artikel erinnert den Leser zunächst noch einmal an den erlaubten Bezugsrahmen, indem klar gestellt wird, dass „die meisten Experten“ den “ Machthaber“ Assad als Schuldigen ausgemacht hätten.

Selbst Anja Willner muss einräumen, dass die Untersuchungen aber noch nicht abgeschlossen seien.

Gack berichtete, in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Duma hätten ihm mehrere Menschen erzählt, der Angriff sei eigentlich eine „Provokation“ der islamistischen Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). In dem Lager seien auch viele Menschen, die aus Duma geflüchtet seien.

Sie hätten erzählt, die Islamisten hätten Tanks mit Chlorgas in Duma platziert – in der Hoffnung, dass die Behälter bei Bombardements getroffen würden. So sei es auch geschehen. Gack ordnete in der Live-Sendung diese Aussagen nicht weiter ein. Er sagte lediglich, er wolle „nicht für jeden Satz“ die Hand ins Feuer legen. „Aber irgendwie scheint da schon was dran zu sein.“

Glücklicherweise weist Anja Willner auf das Vergehen hin, sonst würde man es vielleicht gar nicht bemerken. Gack nennt die Quelle seiner Aussage und erläutert, dass er nicht seine Hand dafür ins Feuer legen kann.

Aber das ist für Anja Willner nicht ausreichend.

Der IS ist gar nicht in dem Gebiet aktiv, in dem Duma liegt. Die Gegend in der Nähe von Damaskus wird mittlerweile von Assads Truppen kontrolliert. Dort sind einige islamistische Milizen aktiv, in Duma zuletzt vor allem Dschaisch al-Islam.

Anja Willner ist sich sicher, dass sie die Lage in Duma besser kennt als Gack und die Menschen, die aus der Gegend geflohen sind.

Vielleicht sehen die Kriegsflüchtlinge die Unterschiede zwischen Milizen nicht so, wie sie in der westlichen Berichterstattung suggeriert wird? Vielleicht gibt es diese Unterschiede in Wirklichkeit gar nicht?

Gack gibt nur wieder, was ihm Kriegsflüchtlinge berichtet haben. Das mag die Wahrheit sein oder auch nicht. Ich weiß es nicht.

Der Punkt ist: Anja Willner weiß es ebenfalls nicht. Sie sieht nur, dass die von Gack berichtete Sicht an mehreren Stellen nicht mit den Informationen übereinstimmt, die sie kennt.

Daraus konstruiert sie eine größere Verantwortung an Gack bei der Verbreitung dieser Informationen. Er muss diese Informationen aus ihrer Sicht besser einordnen. Noch besser, als er es ohnehin schon tat.

Für Anja Willner selbst gilt das allerdings nicht: Sie muss nicht einordnen, woher die Information stammt, dass es nicht der IS ist, der in dieser Gegend aktiv ist.

Abgesehen von den Schilderungen seiner Gesprächspartner nennt Gack keine weiteren Belege für seine These, der Giftgasangriff könne eine „Provokation“ des IS gewesen sein.

Es sind hohe Standards, die Anja Willner an die Berichterstattung ihres Kollegen anlegt.

Es ist aus ihrer Sicht also nicht ausreichend, die Quelle zu nennen und zu sagen, dass man die Aussagen selbst nicht überprüft hat.

Ich frage mich, ob Anja Willner diese hohen Standards in ihrem Berufsleben selbst erfüllt.

Für mich sind die Nennung der Quelle und die Distanzierung von der Aussage jedenfalls ausreichend um sie einzuordnen.

Umso zentraler ist die Frage, wie glaubwürdig die Aussagen seiner Gesprächspartner sind.

Nein, das ist nicht die Frage. Es sind als solche gekennzeichnete Berichte von Flüchtlingen. Die Zuschauer können sie selbst einordnen.

Der ZDF-Korrespondent erwähnt nicht, wie die Auswahl der Gesprächspartner ablief – insbesondere, ob Gesprächspartner von einer staatlichen Stelle ausgewählt wurden.

Anja Willner spekuliert – ohne jedes Indiz – über schwere handwerkliche Fehler ihres Kollegen. Mit dieser offenen Spekulation diskreditiert sie ihn.

Aus dem Beitrag wird außerdem nicht klar, woher Gacks Gesprächspartner ihre Informationen haben. Waren sie Augenzeugen, wie islamistische Kämpfer angeblich Chlorgas-Behälter platziert haben? Oder basieren ihre Aussagen auf Hörensagen?

Dazu hat Gack keine Aussagen gemacht. Die Frage ist, wie viel Absicherung man im deutschen Fernsehen in einer kurzen Liveschaltung betreiben muss um auf den einfachen Fakt hinzuweisen, dass „mehrere Menschen erzählt“ haben, dass der Giftgas-Zwischenfall vom IS inszeniert wurde.

In der Kürze einer Liveschaltung läuft das darauf hinaus, dass man den Fakt gar nicht mehr berichten kann, weil man die Sendeminuten für die Absicherungen, Einordnungen und Hinweise verbrauchen würde.

Auch an dieser Stelle frage ich mich erneut, ob Anja Willner diese hohen Standards an alle Berichterstattungen und an ihre eigene Arbeit anlegt.

Warum kennen sie die Strategie islamistischer Milizen – wissen aber nicht, dass der IS in ihrer eigenen Stadt gar nicht aktiv ist?

Basiert Anja Willners Aussage, dass der IS in dieser Stadt nicht aktiv ist nicht ebenfalls nur auf Hörensagen? Oder war sie selbst vor Ort und hat das geprüft?

„Gar nicht aktiv“ ist eine sehr starke Aussage: Kann Willner tatsächlich ausschließen, dass ein kleines Team des IS in der Lage gewesen wäre diesen Zwischenfall zu inszenieren? Auch wenn die Stadt nicht unter Kontrolle des IS war?

Der ZDF-Korrespondent stellt in der kurzen Live-Schalte nur die Theorie vor, der IS könne einen Giftgasangriff inszeniert haben. Zwar macht er deutlich, dass ihm dies seine Gesprächspartner in den Flüchtlingscamps erzählt haben – seine persönliche Einschätzung mag anders aussehen. Die unter Experten verbreitete Auffassung, dass die Assad-Regierung hinter dem Angriff steckt, erwähnt Gack jedoch gar nicht.

Das ist so ein Witz. Anja Willners Forderungen laufen auf das Verschweigen der Information hinaus. Wenn Gack all ihre Forderungen erfüllt, passt das zeitlich nicht mehr in eine kurze Liveschaltung.

Und seit wann muss man im Journalismus immer alle Seiten beleuchten, wenn die eine Seite bereits seit langer Zeit allgemein bekannt ist? Gack ist der einsame Rufer in der Wüste, was schadet es, wenn er nur die neue Information nennt?

Überall wird davon gesprochen, dass Assad für den Zwischenfall verantwortlich sei. Warum regt sich Anja Willner so darüber auf, wenn einmal über eine andere Theorie berichtet wird?

Für staatliche russische Auslandsm edien wie „Sputnik“und den deutschen Ableger von „RT“ war der Beitrag ein gefundenes Fressen.

Das ist das Verbrechen: Die falschen Leute greifen Gacks Aussagen auf. Ganz armselig, Anja.

Auf Nachfrage von FOCUS Online teilte ein ZDF-Sprecher mit, dass die Liveschalte „auch in unserem Haus selbstkritisch diskutiert“ worden sei.

Für mich ist das eine als Nachfrage getarnte Denunziation. Falls es das ZDF selbst noch nicht mitbekommen hat, schwärzt Anja sicherheitshalber selbst ihren Kollegen an.

Wie viele Anfragen hat focus.de denn im letzten Jahr an andere Medienhäuser wegen journalistischer Fehlleistungen gestellt?

Auf die Selbstzensur des ZDF können wir uns natürlich verlassen, die benötigen keine externen Denunzianten für eine lächerliche Aussage während einer Liveschaltung.

Gack habe auch wiederholt die „widersprüchlichen Informationen und die Propaganda aller Seiten“ thematisiert, die die Arbeit von Journalisten in Syrien besonders schwierig machen.

Noch Fragen? Jedem ist klar, dass im Krieg zu allererst die Wahrheit stirbt, Gack selbst hat dies thematisiert. Aber Anja Willner ist das nicht genug. Bestimmte Informationen muss er aus ihrer Sicht streng einordnen.

Der Sprecher wies auch darauf hin, dass Live-Schaltungen aus einem Krisengebiet mit „besonders viel Druck“ für die Korrespondenten verbunden seien.

Ich finde diesen Hinweis sehr interessant: Anja Willner muss den Druck der Nachrichtenbranche doch selbst kennen. Sie muss wissen, wie wenig Zeit zur Vorbereitung bleibt und in wie kurzer Zeit die Informationen rübergebracht werden müssen.

Warum schlägt sie trotzdem so hart auf Gack ein? Ich habe den Eindruck, dass Willners Kritik gar nicht allgemein auf Gacks Vorgehensweise bezogen ist, sondern sich auf die konkrete Information bezieht.

Seit wann stellen Journalisten ihre Kollegen in so beispielloser Weise öffentlich an den Pranger?

Nach meinen Beobachtungen tun sich gerade Journalisten mit Kritik an ihrer Zunft sonst eher schwer.

Willner scheint schlicht nicht zu passen, dass Gack der Mainstream-Meinung widersprochen hat und unerwünschte russische Medien dies aufgegriffen haben.

Die Zensur innerhalb des ZDF hat letztlich sehr gut funktioniert: Gack erwähnte in den späteren Sendungen die Aussage der Flüchtlinge, dass es einen inszenierten Giftgaszwischenfall gab, nicht mehr.

Stattdessen berichtet er nur noch von Klinikmitarbeitern, die das Assad-Regime ihm geschickt hätte, die davon sprechen, dass es gar keinen Giftgas-Zwischenfall gegeben hätte.

Gack habe seine Einschätzung in allen nachfolgenden Sendungen korrigiert. […]

Gack betont, dass diese „Zeugenaussagen“ kein Beweis dafür seien, dass der Giftgasangriff inszeniert gewesen sein könnte.

Was für eine Showveranstaltung. Der Korrespondent hat widerrufen! In einer späteren, längeren Sendung hat er endlich Anja Willners „Qualitätsstandards“ erfüllt.

Fazit

Ist es Zufall, dass – in einem Ozean journalistischer Fehlleistungen – ausgerechnet bei diesem Thema ganz genau auf angebliche Verfehlungen geachtet wird?

Die Angst um den Verlust der Deutungshoheit der Medien muss tief sitzen, wenn wegen einer Liveschaltung – die sonst jeder vergessen hätte – im ZDF und in anderen Medien so ein Aufriss veranstaltet wird.

An den Haaren werden Qualitätsanforderungen herbeigezogen – denen im journalistischen Alltag niemand entspricht – und auf den Delinquenten angewandt.

Anforderungen, denen in einer kurzen Liveschaltung niemand entsprechen kann, so dass nur eins richtig gewesen wäre: Gack hätte über seine Gespräche in Flüchtlingscamps schweigen müssen. Die Einordnung, er könne nicht für jeden Satz die Hand ins Feuer legen, reicht nicht.

Der Zuschauer soll sich auf keinen Fall eine eigene Meinung bilden. Andere Auffassungen haben in der Berichterstattung keinen Platz. Die Aufarbeitung des Vorfalls ist noch nicht abgeschlossen.

Es ist möglich, dass Assad tatsächlich nicht verantwortlich für den Angriff ist. Es gibt, so räumt Willner selbst ein, Experten, die das so sehen. Aber im ZDF darf über solche vom Mainstream abweichenden Auffassungen nicht berichtet werden. Auch dann nicht, wenn ein Reporter vor Ort von Gesprächen in Flüchtlingscamps berichtet und den Wahrheitsgehalt selbst anzweifelt.

Dem ZDF-Zuschauer ist so etwas nicht zumutbar.

Dieses Beispiel macht sichtbar, wie schwierig es ist, im journalistischen Mainstream abweichende Meinungen zu äußern. Schon die kritische Erwähnung der Aussagen anderer bringt den Leiter eines Auslandsstudios in die Bredouille.

Sofort verfolgen eifrige Zensoren seine weiteren Berichte und prüfen argwöhnisch, ob er diesmal die richtigen Worte findet. Und das Ergebnis der Prüfung wird – zusammen mit allen angeblichen Fehlern – bei focus.de veröffentlicht.

Man stelle sich nur vor, Gack hätte sich in späteren Sendungen so ausgedrückt wie in der kritisierten Liveschaltung. Seine berufliche und wirtschaftliche Existenz stünde auf dem Spiel.

Nur wenige Sätze reichten, und schon stellen seine Kollegen öffentlich seine journalistische Kompetenz in Frage.

Welcher Journalist riskiert seine Existenz und die seiner Familie, nur um irgendwelchen Niemanden eine Stimme zu geben?

Ob gewollt oder nicht: Anja Willner schafft mit ihrem Artikel ein „Bestrafe einen, erziehe hunderte“-Klima unter Journalisten.

2 Kommentare zu „Schon die kleinste Abweichung vom Mainstream wird hart bestraft“

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