Der Unterschied zwischen Jammerfrau und Jammermann

Hier im Blog waren schon öfter Jammerfrauen Thema. Das sind Frauen, die andere für ihre häufig nur scheinbaren Probleme verantwortlich machen. Sie selbst tragen für ihr Schicksal keine Verantwortung und sie haben häufig keinen Antrieb, selbst etwas an ihrer Situation zu verbessern.

Jammernde Männer finde ich seltener in den Medien als jammernde Frauen. Horst hat einen für mich gefunden und ich hatte nichts besseres vor als den Artikel zu lesen.

380 Bewerbungen, seit zwei Jahren arbeitslos – ein promovierter Chemiker findet trotz Erfahrung und guter Noten keinen Job. Seine Problemzone: die gepiercten Ohrläppchen.

Auf dem Foto zum Artikel ist neben den gepiercten Ohrläppchen auch ein popelartiges Nasenpiercing zu sehen – und der Mann hält seine Ohren für seine Problemzone!

Ich habe mit Chemie auch kein völlig arbeitsmarktfernes Fach für mein Studium und meine Promotion gewählt. Trotzdem bin ich seit fast zwei Jahren arbeitslos. Warum? Vielleicht auch weil ich einen osteuropäisch klingenden Namen trage. Ganz sicher aber, weil ich mich in einer konservativen Branche bewerbe und einen eher unkonventionellen Ohrschmuck habe.

Genau wie eine Jammerfrau lässt der Chemiker wichtige Informationen aus, indem er sich auf die Nennung des Faches und seines Bildungsabschlusses beschränkt. Auch die Note und die Studiendauer nennt er nicht, obwohl diese bei Bewerbungen natürlich ebenfalls eine Rolle spielen.

Nur aus Fach und Abschluss leitet er ab, dass seine Erfolglosigkeit an Diskriminierung liegen muss. Da er mit seiner Hautfarbe keiner Opfergruppe angehört, definiert er seine Opfergruppe anders: Ohrenpiercing.

Den osteuropäisch klingenden Namen anzuführen, ist ihm als Diskriminierungsgrund wohl selbst zu dick aufgetragen. Ernsthaft: Das ist mir noch nicht untergekommen. Aber vielleicht mache ich mir einfach zu wenig Gedanken und die Leute aus meinem Umfeld mit osteuropäisch klingendem Namen sind diskriminierte Opfer, ohne es zu merken.

(Ich bin mir sicher, jemand der sich lange genug – am besten in einer steuerfinanzierten Stiftung oder einem der vielen mit öffentlichen Mitteln geförderten Vereine – mit der Bekämpfung von Diskriminierung beschäftigt, wird auch diese Opfergruppe bestätigen können.)

Insgesamt habe ich in den vergangenen vier Jahren deshalb etwa 380 Bewerbungen geschrieben.

Klingt viel, sind aber nicht einmal zwei pro Woche.

Im Nachhinein denke ich, dass es ein großer Fehler war, mich bei meiner Berufswahl für eine konservative Branche zu entscheiden. Hier haben es sogar Männer mit längeren Haaren schwer. In der Medienbranche dagegen wäre ich mit meinen Tunnels wohl kein Exot.

Hier unterscheidet sich das Piercingopfer von einer Jammerfrau. Er räumt ein, selbst Fehler gemacht zu haben, indem er sich für die falsche Branche entschieden hat – ob das der Fall ist, sei dahingestellt.

Ich will nicht mein Leben lang arbeitslos bleiben, deshalb habe ich auch schon überlegt, ob ich noch mal eine Ausbildung machen soll – in einem Beruf, in dem mein Look die Leute nicht irritiert.

Auch hier unterscheidet sich der Chemiker von Jammerfrauen. Er sieht sich selbst in der Verantwortung, die Situation zu ändern.

Das Piercingopfer hatte erst einmal einen Job. Es wird nicht erklärt, warum dieser Job vor zwei Jahren endete. Ich finde er macht es sich zu einfach, indem er alles auf die Piercings schiebt.

Ich denke aber schon, dass sein Äußeres einen Einfluss auf seinen Bewerbungserfolg hat: Denn natürlich sagen Ohren- und Nasenpiercings etwas über einen Menschen.

Trotzdem bin ich von diesem Jammermann überrascht. Er entspricht nicht dem Bild, was ich von Jammerfrauen habe: Schuld sind nicht nur die anderen. Er selbst hat das Heft des Handelns in der Hand.

8 Kommentare zu „Der Unterschied zwischen Jammerfrau und Jammermann“

  1. Haare schwarz färben. Braun anmalen, Pass wegschmeissen, ganz oben bewerben.
    Das Problem ist garantiert nicht das Tunnelpiercing (ok, kenne das Ausmaß nicht),
    sondern die unerwünschte Hautfarbe und das Geschlecht . Am End ist er noch blond.

    Schaut der Mann keine Werbung? Dort wird doch ständig das gewünschte Ideal abgebildet.
    Ein Islamistenvollbart könnte noch helfen, aber färben nicht vergessen.

    Mal im Ernst Männer: Wieso rennt Ihr ne Zirkus hinterher der Euch nicht will und denkt, ohne Eure Leistung wird alles besser? Klinkt Euch aus, Schafft auf bescheidenem Nivesau Selbstversorgerstrukturen und geniesst die Zeit bis zum Zusammenbruch. Danach seit Ihr diejenigen, die oben schwimmen, wenn Ihr es richtig gemacht habt und habt alle Optionen. Und bis dahin schaut Ihr entspannt zu, wie der ganze Irrsinn in einer surrealen Tarantella um die paranoiden, mediengeschaffenen Wahnbilder sich Tode tanzt.

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  2. Ganz zum Schluss kommt der Hinweis auf eine mögliche Erklärung seiner Erfolglosigkeit:

    „All die Bankkaufmann-Azubis in ihren schlecht sitzenden, billigen Anzügen von der Stange wirken auf mich auch nicht gerade seriös.“

    Da klingt er als ob er sich für etwas besseres hält. Die Gesellschaft scheint ihm etwas schuldig zu sein. Und wenn er sich so einen billigen Seitenhieb selbst in seinem Artikel nicht verkneifen kann, will ich gar nicht genau wissen wie er sich sonst verhält.

    Insofern paßt er sehr gut in die ganzen anderen Zeit-Artikel.

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    1. Diese Erklaerung passt eher. Mit Riesenloechern in den Ohren, Nasenstecker und evtl. noch Tatoos wird man von den Psychologen der Persa eben eher in die Arbeiterklasse einsortiert, nicht in die Herr Doktor Klasse. Zu recht. Es ist ein Hinweis, dass es da einige psychologische Probleme gibt.

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  3. „Auch die Note und die Studiendauer nennt er nicht“
    [ich habe einen deutschen Pass, sehr gute Noten und Arbeitserfahrung] steht im ersten Satz des Artikels. Wer in Chemie promoviert ist mit Sicherheit kein Dummerchen.

    [Gemäß den jährlichen Statistiken der GDCh stagniert der Frauenanteil im Chemiestudium derzeit bei etwa 35 – 40 %. Im Lebensmittelchemiestudium beträgt er etwa 70 % und im Biochemiestudium etwa 60 %. Daten zum Lehramtsstudium wurden letztmalig 2009 erfasst. Damals betrug der Frauenanteil 65 %.]
    (Von der FU-Berlin page)
    [Die GDCh in formiert in ihrem eigenen Web-Angebot selbst über Frauenförderprogramme.]
    Vielleicht hat er nur das zum Ohrschmuck unpassende Geschlecht….?

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