Die Sozialwahl: Pseudodemokratisch und irrelevant

Vor kurzem erhielt ich einen Brief von der Deutschen Rentenversicherung Bund. Aufgedruckt war der Schriftzug „Sozialwahl 2017“. Ich widerstand dem Impuls, das Schreiben ungeöffnet in den Papierkorb zu werfen.

sozialwahl-2017

Meine Erinnerung an die letzte Sozialwahl liegt etwas zurück. Also erstmal informieren, wen ich wofür wählen soll.

Über 51 Millionen Versicherte bestimmen bei der Sozialwahl darüber, wer bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, der Deutschen Rentenversicherung Saarland und bei den Ersatzkassen der gesetzlichen Krankenversicherung in den jeweiligen Parlamenten sitzt und dort die wichtigen Entscheidungen trifft. Denn die gesetzliche Sozialversicherung ist selbstverwaltet. Das heißt, Versicherte haben ihre eigenen Parlamente. Diese beschließen über den Haushalt, über die Gestaltung neuer Leistungen, berufen den Vorstand und entscheiden beispielsweise auch über Fusionen.

heißt es hier. Wen ich dafür wählen kann, erklärt Gundula Roßbach, die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung Bund, in dieser Broschüre.

12 Organisationen stellen sich mit einer eigenen Vorschlagsliste zur Wahl.

Ich kann also keine Kandidaten wählen, nur Listen. Woran erinnert mich das gleich? Ach ja, an die DDR. Wahlen per Einheitsliste. Damals konnte man einzelne Kandidaten streichen. Naja, dafür gibt es bei der Sozialwahl mehr als eine Liste.

Die Organisationen, die die Listen zusammengestellt haben, sind Versichertengemeinschaften für bestimmte Krankenversicherungen und – natürlich – Gewerkschaften.

Jede Organisation stellt sich auf einer Seite der Broschüre vor. Die Ziele sind eher allgemein formuliert und ähneln sich. Ver.di wirbt mit den Slogans:

Kompetenz in der Selbstverwaltung

Selbstverwaltung ist gelebte Demokratie

Rente muss für ein gutes Leben reichen

Kompetenz zu behaupten ist gut, aber wird diese Kompetenz für Ziele eingesetzt, die auch die meinen sind? Selbstverwaltung ist gelebte Demokratie, na, dazu komme ich noch. Und dass die Rente für ein „gutes Leben reichen“ muss – geschenkt! Hat jemand nur fünf Jahre eingezahlt, wird seine Rente nicht für ein gutes Leben reichen. Sie wird überhaupt nicht zum Leben reichen. Sollen die anderen Versicherten ihm ein gutes Leben finanzieren? Diese Gerechtigkeitssprücheklopfer von ver.di, die das Gegenteil von Gerechtigkeit meinen.

Die Organisation mit dem skurrilen Namen „Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands e.V. / Kolpingwerk Deutschland / Bundesverband Evangelischer Arbeitnehmerorganisationen e.V.“ skandiert:

Dreifach christlich. Einfach menschlich.

Gut, wenn Ihr Ruhestand gesichert ist.

Und dafür engagieren sie sich:

• Die eigenen Rehabilitationseinrichtungen der Deutschen Rentenversicherung sind zu erhalten, stärker zu vernetzen und die Reha-Angebote sind auszubauen.
• Qualifizierte Maßnahmen zur Prävention und Wiedereingliederung ins Erwerbsleben sind weiterzuentwickeln und zu vernetzen.

Vernetzen, vernetzen. Qualifizierte Maßnahmen weiterentwickeln. Inhaltsleeres Gerede.

Geben Sie uns Ihre Stimme – für eine gute Rente, die Freiräume eröffnet und Altersarmut verhindert, gerade von Frauen!

Auf Kosten von wem? Die Leistung ergibt sich aus den eingezahlten Beiträgen. Wenn „gerade Frauen“, die weniger eingezahlt haben, mehr Rente bekommen sollen, dann bekommen „gerade Männer“, die mehr eingezahlt haben, weniger Rente. Danke, Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands e.V. / Kolpingwerk Deutschland / Bundesverband Evangelischer Arbeitnehmerorganisationen e.V.

Nachvollziehbar dargestellte Ziele, die über Sprücheklopferei hinausgehen, sind die Ausnahme. Etwa beim Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschlands:

• Für den Erhalt und die Stärkung der Selbstverwaltung bei der Deutschen Rentenversicherung; die Rentenversicherung gehört den Versicherten und nicht der Bundesregierung.
• Für eine sozialversicherungskonforme Beitragsverwendung – sozialpolitische Zusatzleistungen, die nicht durch Versichertenbeiträge gedeckt sind, müssen steuerfinanziert werden.

Großartig, dass die Gewerkschaftsfunktionäre in der Selbstverwaltung für den Erhalt der Selbstverwaltung sind, aber ich erkenne zumindest was die wollen. Und dass die Beiträge auch versicherungskonform verwendet werden sollen, kann ich sogar inhaltlich nachvollziehen – warum sollen es die Versicherten bezahlen, wenn die Regierung sozialpolitische Geschenke wie die Mütterrente verteilt. Irritierend finde ich eher, dass sich nicht mehr zur Wahl stehende Organisationen für dieses Ziel einsetzen. Entweder verstehen sie das Prinzip der Rentenversicherung nicht oder es ist ihnen egal, dass die Rentenversicherung durch politische Einflüsse destabilisiert wird.

Die Versichertengemeinschaften der Krankenkassen scheinen tendenziell weniger Sprüche zu klopfen. Aber warum sollte ich die Lister der BARMER- oder DAK-Versicherten wählen, wenn ich dort nicht versichert bin?

Ich habe mir angesehen, wer auf den Listen steht. Hier findet man sämtliche Vorschläge der listenaufstellenden Organisationen. Es handelt sich allerdings um Listen im Wortsinne – Abfolgen von Namen, Geburtsjahren und Anschriften.

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Die Entscheidung, welche Liste man wählen soll, erleichtert das nicht.

Das bringt mich zum nächsten Punkt: Was gestalten die mir unbekannten Listenkandidaten in der Selbstverwaltung, die sie so erhaltenswert finden?

Die Deutsche Rentenversicherung Bund, die mich angeschrieben hat, beschreibt die Aufgaben der Selbstverwalter:

Die Selbstverwalter bei der Deutschen Rentenversicherung Bund beschließen jährlich den zweitgrößten öffentlichen Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland, dessen Volumen sich auf einen dreistelligen Milliardenbetrag (2015: knapp 140,5 Milliarden EUR) beläuft. Vorab werden in eingehenden Beratungen Details zu den Haushaltspositionen diskutiert und geprüft. Mit der Entscheidung über den Haushalt werden insbesondere die Weichen für die Rentenzahlungen gestellt und außerdem zahlreiche weitere Finanzierungsentscheidungen getroffen.

Kurz: Die Selbstverwalter beschließen den Haushalt. Welche weitreichenden Finanzierungsentscheidungen ein ehrenamtlicher Selbstverwalter wirksam beeinflussen kann, kann sich jeder selbst ausmalen. Die Weichen für die Rentenzahlungen werden gestellt, genau. Weil die ohne beschlossenen Haushalt nicht zahlen dürfen?

Ich stelle mir das so vor: Die bekommen ein paar Präsentationen vom Rentenversicherungsträger vorgelegt, dann diskutieren sie. Einige wollen Akzente setzen, diese speziellen Einrichtungen dürfen aber nicht geschlossen werden, jene Maßnahme war aber ganz toll und davon sollte es mehr geben, und warum sind denn bei Eingliederungsmaßnahmen soundsoviel Euro weniger veranschlagt. Dann macht der Rentenversicherungsträger ein paar Zugeständnisse, es gibt dort noch ein paar Euro und dort auch, denn die Selbstverwalter sind ja das Rückgrat der Rentenversicherung. Dann fühlen sich alle gut und beschließen den Haushalt. Damit wurden dann zahlreiche Finanzierungsentscheidungen getroffen.

Die Selbstverwalter entscheiden zudem über die Besetzung der Leitungspositionen im Haus, beeinflussen das Rehabilitationsangebot in den Kliniken oder befassen sich mit einer Reihe von organisatorischen Abläufen.

Entscheidung über die Besetzung der Leitungsfunktionen durch Listenvertreter von Gewerkschaften. Wieviel Gegenwehr dann bei politischer Einflussnahme und Begehrlichkeiten von – zum Beispiel – Bundesarbeitsministerin Nahles zu erwarten ist kann sich jeder denken.

Die Selbstverwalter können das Rehabilitationsangebot beeinflussen und sich mit einer Reihe von organisatorischen Abläufen befassen? Weder für das eine noch das andere haben Ehrenamtler den Sachverstand. Vielleicht gibt es Ausnahmen, aber ein Rentenberater kennt sich mit Beitragssätzen und Geldleistungen aus, er ist normalerweise kein Mediziner und kein Experte für Prozessoptimierung. Ein, zwei gut gemachte Präsentationen, alle nicken, ein paar Befindlichkeiten werden berücksichtigt – Zustimmung. So wird das laufen.

Darüber hinaus spielt die Selbstverwaltung bei der täglichen Verwaltungsarbeit eine wesentliche Rolle. Deren Mitglieder arbeiten in den Widerspruchsausschüssen des Rentenversicherungsträgers mit. Sie entscheiden damit über eingelegte Widersprüche, etwa wenn Anträge auf Erwerbsminderungsrenten oder Rehabilitationsanträge von der Verwaltung abgelehnt wurden.

Ehrenamtliche entscheiden über meinen Widerspruch mit, wenn mir meine Rente nicht hoch genug scheint? Aber sie sind schon an Recht und Gesetz gebunden, oder? Mir wäre es lieber wenn ausgebildete Juristen über meinen Widerspruch entscheiden, aber sei’s drum. Am Ende steht mir der Klageweg offen, egal ob da ein Selbstverwalter vorher genickt hat oder nicht.

Auch wenn es darum geht die rund 33 Millionen Versicherten und Rentner der Deutschen Rentenversicherung Bund bei Fragen rund um die Rente zu beraten oder beim Ausfüllen von Anträgen zu helfen hat die Selbstverwaltung eine wichtige Funktion. Für diese Aufgabe werden annähernd 2.600 Versichertenberaterinnen und Versichertenberater von den Gremien der Selbstverwaltung gewählt.

Diese Selbstverwaltergremien sind also eine Art Selbsthilfeverein. Bei Streitigkeiten mit dem Stromanbieter, Vermieter oder der Stadtverwaltung gehe ich zur Verbraucherzentrale. Bei Streitigkeiten mit der Rentenversicherung habe ich ein Netz an Versichertenberatern. Oder wenn ich Hilfe beim Ausfüllen eines Antrages brauche. Ist in Ordnung, und ich frage auch nicht nach den Kosten, aber klar ist: Eine Selbstverwaltung braucht es dafür nicht.

Ich will nicht sagen, dass mir das alles völlig egal wäre. Aber die drängenden Probleme unseres Landes sind das nicht. Es macht keinen Unterschied, welche Liste ich wähle oder ob ich überhaupt abstimme – mein Leben ändert sich dadurch nicht.

Bei der Recherche bin ich über einen Artikel auf Spiegel Online gestolpert, der das Bild richtig rund macht:

Nur bei einer Handvoll Krankenkassen können die Versicherten überhaupt abstimmen. Bei dem überwiegenden Teil gibt es dagegen die sogenannte Friedenswahl – das bedeutet, die Gruppen kungeln die Besetzung der Gremien unter sich aus. Auf einen lästigen Wahlakt wird gleich ganz verzichtet. Das klingt nach DDR-Verhältnissen.

Fazit

Ich habe die Wahl zwischen zwölf Listen, aufgestellt von Gewerkschaften und Organisationen, die ich nicht kenne. Die Menschen auf den Listen kenne ich nicht. Ich weiß nicht wofür sie stehen, ich kenne ihre Ziele nicht und ich weiß nicht, welche Interessen sie (eigentlich) haben. Ihre Einflussmöglichkeiten sind außerdem begrenzt. Die allermeisten Entscheidungen, die diese Listenkandidaten treffen, haben absolut keine Auswirkungen auf mein Leben.

Und das wird mir als gelebte Demokratie verkauft. Die Sozialwahl ist eine pseudodemokratischen Abstimmung über irrelevanten Kram – wer entscheidet über einen Widerspruch bei der Rentenversicherung, welche Leistungen werden bei einer Rehabilitationsmaßnahme gewährt, wer berät ehrenamtlich Versicherte, wie werden organisatorische Abläufe bei der Rentenversicherung gestaltet und der ganze andere Mist. Da mache ich nicht mit. Das Schreiben der Rentenversicherung wandert jetzt mit Verzögerung in den Müll. Zwei von drei Wahlberechtigten machen es auch so und stimmen nicht mit ab. Übrigens, die letzte Sozialwahl 2011 hat die Versicherten 43,3 Mio. Euro gekostet.

 

2 Kommentare zu „Die Sozialwahl: Pseudodemokratisch und irrelevant“

  1. Ich wähle bei diesem pseudo-demokratischen Mist auch schon lange nicht mehr mit. Danke für deine Ziselierung dieses Schreibens und den kritischen Anmerkungen dazu, Siggi.

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