Gleichwertige Lebensverhältnisse

Die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (Die Linke) stellt bei faz.de Forderungen:

Der Bundesregierung warf die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion vor, das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse aus den Augen verloren zu haben. „Es ist ein Skandal, dass insbesondere der Osten weiterhin so deutlich abgehängt ist.“ Ein wesentlicher Schlüssel für eine weitere Angleichung der Löhne sei die Stärkung von Tarifverträgen und Tarifbindung, die im Osten deutlich schwächer als im Westen sei. „Die Bundesregierung ist in der Pflicht, dass nicht ganze Landstriche und ihre Menschen abgehängt werden.“

Wie die Bundesregierung Tarifverträge und Tarifbindung stärken soll, das bleibt das Geheimnis von Sabine Zimmermann.

Inwieweit stärkere Tarifverträge und Tarifbindung überhaupt helfen würden, wenn es die entsprechenden Jobs in der Industrie in bestimmten Regionen gar nicht gibt, bleibt das zweite Geheimnis von Sabine Zimmermann.

Außerdem sind Tarifverträge Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien. Das sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer, oft durch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften vertreten. Die Tarifautonomie ist im Grundgesetz verankert. Das bedeutet, Tarifverträge werden allein von den Tarifvertragsparteien selbst ausgehandelt. Oder, wie man bei Wikipedia nachlesen kann:

Eine Einflussnahme durch Regierung oder Verwaltung, Gesetzgeber und Rechtsprechung ist nicht zulässig. Vielmehr müssen staatliche Stellen ihre Neutralität wahren.

Anlass der Forderungen von Sabine Zimmermann ist eine Anfrage der Fraktion Die Linke an die Bundesregierung:

Demnach beträgt das mittlere monatliche Bruttoeinkommen in Wolfsburg 4610 Euro, gefolgt von Ingolstadt mit 4545 Euro, Ludwigshafen mit 4491 Euro und Erlangen mit 4486 Euro. Im Erzgebirgskreis liegt das monatliche Bruttoentgelt im Mittel bei 2036 Euro. Den vorletzten Platz belegt der Kreis Vorpommern-Rügen mit 2057 Euro, gefolgt vom Kreis Elbe-Elster 2060 und Görlitz mit 2068 Euro.

[…]

Berechnet wurde nicht das Durchschnitts-, sondern das Medianeinkommen.

4610 Euro zu 2036 Euro – das sind schon erhebliche Unterschiede der Medianeinkommen. So wie ich das verstehe, wurde aber z. B. nicht nach Halbtags- und Vollzeitjobs unterschieden, so dass keine direkte Vergleichbarkeit gegeben sein dürfte.

Ein Scheinargument sei es, wenn die geringeren Lebenshaltungskosten in Niedriglohnregionen angeführt würden. „Im Erzgebirgskreis kostet ein Auto oder der Einkauf im Supermarkt eben nicht die Hälfte weniger als wie [sic!] in Hochlohnregionen.“

Sicher kostet im Erzgebirgskreis – und überhaupt im Osten – nicht alles die Hälfte. Aber Mieten teilweise schon. Während beispielsweise eine Mietwohnung in Magdeburg je nach Wohnungsgröße zwischen 5,27 Euro und 6,43 Euro je Quadratmeter kostet, sind es in Stuttgart zwischen 8,93 Euro und 21,93 Euro.

Ein Teil des Unterschiedes wird dadurch nivelliert. Ein weiterer Teil wird durch das progressive Steuersystem ausgeglichen.

Zimmermann sagte: „Angesichts der deutlichen regionalen Lohnunterschiede kann nicht von gleichwertigen Lebensverhältnissen in Deutschland gesprochen werden.“

Was machen denn „gleichwertige Lebensverhältnisse“ aus? Nur das Einkommen? Sicher  lebt es sich im Kreis Vorpommern-Rügen an der Ostsee besser als in der BASF-Stadt Ludwigshafen. Wie viele Menschen aus Vorpommern-Rügen haben die Entscheidung zugunsten eines höheren Einkommens getroffen und leben jetzt in Ludwigshafen?

Regionale Lohnunterschiede und der Versuch der Nivellierung. Das ist der Unterschied zwischen Chancen- und Ergebnisgleichheit. Wer in Vorpommern-Rügen aufwächst, kann dahin ziehen, wo er mehr verdienen kann. Wer in Ingolstadt – neben der Raffinerie – aufwächst, kann sich entscheiden lieber im schönen Erzgebirge zu wohnen. Jeder hat vergleichbare Chancen.

Unsere Gesellschaft lebt auch davon, dass einige Menschen mobil sind – oft wegen besserer Verdienstmöglichkeiten – und mit diesem Einsatz mehr für sich und die Gesellschaft erwirtschaften. Auch die Landkreise mit den geringsten Einkommen profitieren von (Transfer-)Leistungen, die in den industriellen Zentren des Landes erwirtschaftet werden.

Gedankenspiel

So funktioniert PR: Eine Anfrage stellen, deren Ergebnis man genau so erwarten kann. Dann empört reagieren und Forderungen stellen. Ob diese Aktion irgendwie hilfreich für die Lösung des Problems ist – egal, Hauptsache es wurde Aufmerksamkeit generiert.

Was Sabine Zimmermann hier macht, liegt im Trend: Sie beklagt Ungleichheiten in den Ergebnissen (in diesem Fall beim Einkommen) und fordert staatliche Eingriffe, so dass die Ergebnisse gleicher werden. Soweit, so wie immer.

Interessant wäre es doch mal, die Sache von der anderen Seite her zu betrachten: Könnte man den Menschen in den „abgekoppelten“ Regionen nicht auch vorwerfen, wie unflexibel sie sind? Dass sie durch diese Unflexibilität ihr Potential nicht voll ausschöpfen und durch höhere Sozialabgaben und höhere Steuern viel mehr zur Gesellschaft beitragen könnten?

Könnte man nicht direkt zwei Menschen von Rügen – mit ähnlichem Potential – vergleichen, einer ist dageblieben und einer ist nach Wolfsburg gezogen. Nehmen wir an, beide verdienen so viel wie im Median der beiden Landkreise. Nehmen wir als Berechnungsgrundlage an: Steuerklasse 1, 25 Jahre alt, keine Kinder, nicht in der Kirche, gesetzlich versichert, 1.1 % Zusatzbeitrag, berechnet hier.

Die Person R. auf Rügen verdient also 2057 Euro brutto, macht netto 1415,15 Euro. Steuern 214,51 Euro und Krankenversicherung 172,79 Euro.

Person W. in Wolfsburg verdient also 4610 Euro brutto, macht netto 2.720,67 Euro. Steuern 957,41 Euro und Krankenversicherung 365,40 Euro.

W. ist vom schönen Rügen in der Ostsee in die im 20. Jahrhundert gebaute Industriestadt Wolfsburg gezogen. Er hat Freunde und Familie zurück gelassen und muss sich erst langsam neue Sozialkontakte aufbauen. Falls er einmal Kinder hat, sind die Großeltern vier Stunden entfernt, um sie bei Krankheit betreuen zu können.

R. lebt an der Ostsee und hat Freunde und Familie um die Ecke.

Ist es fair, dass W. 192 Euro mehr für seine Krankenversicherung zahlt als R.? Er zahlt mehr als das Doppelte bei (bis auf das Krankentagegeld) genau der gleichen Leistung wie R.! Ist es gerecht, dass W. 742 Euro jeden Monat mehr Steuern zahlt als R.? Das sind fast 9000 Euro im Jahr.

Könnte man nicht von R. fordern, sich ähnlich flexibel wie W. zu verhalten? Damit er einen ähnlichen gesellschaftlichen Beitrag wie W. leistet? Könnte man nicht auch sagen, dass W. schon über die progressive Steuer einen fairen Anteil an der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse leistet?

Wenn Menschen mit einem Einkommen über dem Median wegen besserer Verdienstmöglichkeiten von Rügen nach Wolfsburg ziehen, verschlechtern sie die Statistik für Rügen. Trotzdem wären diese Menschen wohlhabender und auch gesellschaftlich würde es sich lohnen. Was kann man also mit der Statistik der Medianeinkommen belegen? Eignet sie sich überhaupt für etwas, außer Empörung?

Aktuell liegt es im Trend, Forderungen an den Staat zu stellen, um benachteiligte Gruppen zu fördern. Mein Gedankenspiel, Forderungen nicht an die Gesellschaft, sondern an einen „Betroffenen“ zu stellen, kehrt den moralischen Imperativ um. R. ist in diesem Bild derjenige, der der Gesellschaft schadet, indem er sein Potenzial nicht nutzt. Das ist doch mal ein Denkanstoß.

4 Kommentare zu „Gleichwertige Lebensverhältnisse“

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